Norbert Mielke, Jahrgang 1961, seit 1983 in Westberlin wohnhaft, erinnert sich: Ich wohnte damals im Studentenwohnheim Köthener Straße. Das stand nur wenige Meter von der Mauer am Potsdamer Platz entfernt. Dort war in der Regel wenig los und es war relativ ruhig. Wie vielerorts in West-Berlin damals. Der einst lebendige Potsdamer Platz war wie die übrigen nah an Ostberlin grenzenden Gebiete durch die Mauer regelrecht zur Randlage geworden. Wer ging schon an der Mauer entlang? Spaziergänger, Besuch aus dem Westen oder Anlieger, deren Dackel abends noch mal raus mussten.
Für die Touristen im westberliner Teil waren überall hölzerne Aussichtstürme zum Besichtigen der DDR-Grenze aufgestellt. Da konnte man an vielen Stellen hochsteigen und einen Blick über die Berliner Mauer zur anderen Seite riskieren. Zu sehen war meist wenig. Ein wenig gepflegter Grenzstreifen mit einigen Kaninchen oder Rabenvögeln bei der Futtersuche. War man in der Nähe eines Wachturmes, dann konnte man an ruhigen Abenden sogar Gesprächsfetzen der Wach-Besatzung hören.
Am Abend des 9. November war alles anders. Schon den ganzen Sommer hatte der Unmut der DDR-Bürger sich in Demonstrationen geäußert und man spürte auch im Westen, dass das DDR-Regime unter großem Druck stand, etwas zu verändern. Aber dass die Mauer jemals wieder aufging, damit hatte eigentlich niemand wirklich gerechnet. Abends wurden in den TV-Nachrichten und vor allem über Rundfunksender in Berlin erst über die Reisefreiheit in der DDR und kurz darauf so gegen 10:00 abends dann noch über die Öffnung von Grenzübergängen berichtet.
Ein Nachbar kam aufgeregt angerannt: „Du, die Grenze ist offen!“
Was das konkret bedeutete, war mir nicht klar, aber ich musste es sehen. So beschloss ich zu später Stunde noch einen Abstecher zum 800 Meter entfernten Checkpoint Charlie zu machen. Das war der nächstgelegene Übergang nach Osten. Also Mantel angezogen und zu Fuß entlang der Mauer auf der Westseite. Viele Menschen waren trotz der kalten Novembertemperaturen noch draußen unterwegs.
Es herrschte eine merkwürdige Unruhe. Am Übergang Checkpoint Charly angekommen, strömten die Bürger beider Teile Berlins bereits unkontrolliert hin und her. Durch die vielen Menschen war an einen geregelten Grenzübergang durch die immer noch bewaffneten Grenzsoldaten gar nicht mehr zu denken.
Einige Menschen weinten vor Freude.
Jemand fiel neben mir auf die Knie und fing an West-Erde mit der Hand aufzunehmen, zu futtern und dankbar in den Himmel zu beten. Unfassbare Stimmung. Sektflaschen wurden herumgereicht und aus ihnen getrunken. Autos hupten. Menschen jubelten. Aber alles mit offenem Ende. Ich bahnte mir gegen den Menschenstrom einen Weg, passierte ungehindert die Grenze und ging durch einige ruhigere Nebenstraßen in Ostberlin wo ich damals absolut nicht auskannte. Dann ein Schreck! Ich fasste an meine Gesäßtasche. Weder Geld noch Papiere dabei! Hmm, was wenn jetzt die Russen oder die NVA ankommen und die Grenze wieder schließen? Ich dann in der DDR ohne Ausweis? Nee, der Gang zurück schien mir jetzt angeraten und erleichtert erreichte ich wieder die westberliner Seite. Auch wenn einige Ostberliner es am ersten Abend zum Kuhdamm schafften und ihn unsicher machten, wagten sich die meisten am ersten Abend auch nicht weit. Es reichte ihnen, einfach mal die Grenze zu passieren. Dass es möglich war, erschien wie ein Wunder und sie wollten sich nur davon überzeugen, dass es wirklich eingetreten war. So ganz mochte noch keiner der Lage trauen. Vielleicht morgen wiederkommen und dann mal sehen. Am nächsten Tag, am 10. November, war schon fast klar: Das bleibt so!
Und nun wurden die Menschen mutig. Man kletterte auf die Mauer, trennte Steine heraus. Machte Fotos mit den Grenzsoldaten und unternahm längere Ausflüge auf die jeweils andere Seite. Aus der ganzen Welt kamen Besucher nach Berlin, um dort, wo der Schnitt zwischen Ost und West so krass wie sonst nirgends gewesen war, den Fall der Mauer zu erleben. Wochenlang gab es kein anderes Thema.
Freude und positive Zukunftserwartungen
Und das Beste: Es gab eigentlich keine Berichte von Übergriffen, Randale, Zerstörung oder verletzten Personen. Alles ging friedlich und mit Freude, mit großen, positiven Zukunftserwartungen für alle Menschen in Berlin und in Deutschland über die Bühne. Sogar die noch lange im Einsatz befindlichen, sonst bei Besuchen und Transitfahrten eher mürrisch erlebten Grenzsoldaten freuten sich nun selbst auf den Dienstschluss mit anschließendem Erkundungsausflug in den Westen.
Ein Stück Mauer zur Erinnerung
Mauerspechte waren überall mit Hammer und Meissel unterwegs, um sich Stücke von der Mauer abzuschlagen. Zum Schutz der Augen vor Steinsplittern dienten alle Arten von Brillen, auch Schweisserbrillen, Taucherbrillen und sogar Muttis Küchensieb. Und das Klopfen der Hämmer klang wie in einem Bergwerk. Noch heute hüte ich meinen einzigen selbst geschlagenen originalen Mauerstein im Regal. Solche Erinnerungsstücke kann man in Berlin immer noch vielerorts erwerben. Aber inzwischen wurde die Mauer wohl schon mehr als drei Mal verkauft ;-).
Seit etwa 10 Jahren biete ich in Berlin als Stadtführer Touren an. Unter anderem entlang der ehemaligen Mauer vom Checkpoint Charly zum Potsdamer Platz, Brandenburger Tor bis hin zum Reichstag. Die einst öden Gebiete am und auf dem Grenzsteifen sind heute modern bebaut, insbesondere der Potsdamer und Leipziger Platz sowie das Gebiet bis zum Brandenburger Tor. Das, was heute dort ist, ist sehenswert und spannend, aber das Interesse am Thema Berliner Mauer ist immer noch groß. Ältere Teilnehmer der Touren tragen oft eigene Erinnerungen bei, während die Teilung der Stadt für viele junge Erwachsene so weit weg ist wie andere markante historische Ereignisse. Mehr dazu auf meiner Website: www.sightwalks.de